Stille Heldinnen – Stille Helden
ORTE DER HELFENDEN

1933-1945

Niedersachsen und Bremen

Ernst Cramm
und Otto Hebenstreit

Aktiv an folgenden Orten:

Bis zuletzt menschlich geblieben

In den letzten Kriegstagen ereigneten sich in Lüneburg furchtbare Verbrechen, die als „Lüneburger Massaker“ in die Geschichte eingegangen sind. Hier erinnern wir an Gesten der Menschlichkeit und an Personen, die entweder von Amts wegen zur Hilfe verpflichtet waren und diese tatsächlich geleistet haben, oder von zufällig Beteiligten, die ihrem natürlichen Impuls gefolgt sind, einem Hungernden Essen und einem Durstenden Wasser zu geben.

Als 1945 die feindliche Front näher rückte und der Einmarsch der Alliierten unmittelbar bevorstand, wurden im ganzen Reich Häftlinge aus zahlreichen Konzentrationslagern zu Fuß oder mit der Bahn „evakuiert“. Sie sollten in frontferne Lager verlegt werden. Die als sogenannte „Todesmärsche“ bekannt gewordenen Räumungsaktionen kosteten unzählige Menschenleben: Die Häftlinge starben auf den chaotischen Irrfahrten und den langen Fußmärschen an Entkräftung und Hunger, wurden zum Teil willkürlich von den SS-Wachen erschossen und blieben während der Bombenangriffe der Alliierten ungeschützt. Um zu verhindern, dass die Häftlinge entkamen und in die Hände der Feinde gerieten, wurden sie gelegentlich sogar in Massenexekutionen kurzerhand ermordet.

An diesen Verbrechen der letzten Kriegstage waren nicht nur die SS, die Polizei oder Wehrmachtsoldaten beteiligt, sondern häufig auch der Volkssturm, die Hitlerjugend oder einfache Zivilisten. Selten wurde Mitgefühl mit den geschundenen Opfern gezeigt, selten Hilfe geleistet. Umso wichtiger ist es, von diesen wenigen Lichtblicken zu berichten.

 

Als 1945 die feindliche Front näher rückte und der Einmarsch der Alliierten unmittelbar bevorstand, wurden im ganzen Reich Häftlinge aus zahlreichen Konzentrationslagern zu Fuß oder mit der Bahn „evakuiert“. Sie sollten in frontferne Lager verlegt werden. Die als sogenannte „Todesmärsche“ bekannt gewordenen Räumungsaktionen kosteten unzählige Menschenleben: Die Häftlinge starben auf den chaotischen Irrfahrten und den langen Fußmärschen an Entkräftung und Hunger, wurden zum Teil willkürlich von den SS-Wachen erschossen und blieben während der Bombenangriffe der Alliierten ungeschützt. Um zu verhindern, dass die Häftlinge entkamen und in die Hände der Feinde gerieten, wurden sie gelegentlich sogar in Massenexekutionen kurzerhand ermordet.

An diesen Verbrechen der letzten Kriegstage waren nicht nur die SS, die Polizei oder Wehrmachtsoldaten beteiligt, sondern häufig auch der Volkssturm, die Hitlerjugend oder einfache Zivilisten. Selten wurde Mitgefühl mit den geschundenen Opfern gezeigt, selten Hilfe geleistet. Umso wichtiger ist es, von diesen wenigen Lichtblicken zu berichten.

 

Eines der zahlreichen Zwangsarbeiterlager, das in den letzten Kriegstagen evakuiert wurde, war im September 1944 als Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme in Wilhemshaven am Alten Banter Weg errichtet. Etwa 1000 Zwangsarbeiter mussten dort Schwerstarbeit für die Kriegsmarinewerft oder bei Aufräumarbeiten leisten.
Die Räumung dieses KZ-Außenlagers begann am 3. April 1945 mit dem Abtransport der kranken und nicht marschfähigen Gefangenen. 390 von ihnen wurden an diesem Tag in geschlossene Viehwaggons gepfercht und auf den Weg ins Auffanglager Neuengamme geschickt. Unter den Kranken befanden sich mehrheitlich Franzosen, aber auch Häftlinge aus Belgien, Italien, Jugoslawien, Polen und der Sowjetunion sowie eine Gruppe ungarischer Juden. Der Transport wurde von 17 Marineinfanteristen im Alter von 30 bis 55 Jahren und ihrem Obermaat (= Dienstgrad der Marine) Rudolf Engelmann begleitet. Führer des Transports war der SS-Sturmmann Gustav Alfred Jepsen, stellvertretender Kommandant des Außenlagers Alter Banter Weg, der jedoch dem Obermaat im Rang unterlegen war.

Eines der zahlreichen Zwangsarbeiterlager, das in den letzten Kriegstagen evakuiert wurde, war im September 1944 als Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme in Wilhemshaven am Alten Banter Weg errichtet. Etwa 1000 Zwangsarbeiter mussten dort Schwerstarbeit für die Kriegsmarinewerft oder bei Aufräumarbeiten leisten.
Die Räumung dieses KZ-Außenlagers begann am 3. April 1945 mit dem Abtransport der kranken und nicht marschfähigen Gefangenen. 390 von ihnen wurden an diesem Tag in geschlossene Viehwaggons gepfercht und auf den Weg ins Auffanglager Neuengamme geschickt. Unter den Kranken befanden sich mehrheitlich Franzosen, aber auch Häftlinge aus Belgien, Italien, Jugoslawien, Polen und der Sowjetunion sowie eine Gruppe ungarischer Juden. Der Transport wurde von 17 Marineinfanteristen im Alter von 30 bis 55 Jahren und ihrem Obermaat (= Dienstgrad der Marine) Rudolf Engelmann begleitet. Führer des Transports war der SS-Sturmmann Gustav Alfred Jepsen, stellvertretender Kommandant des Außenlagers Alter Banter Weg, der jedoch dem Obermaat im Rang unterlegen war.

Zwangsarbeiterlager Alter Banter Weg/Gelände Wilhelmshaven.
Foto: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 1944/45. (ANg 1984–3152)

Viele Gleise waren zerstört und die Alliierten drangen stetig weiter ins Reichsgebiet vor – die Fahrt ging darum nur schleppend voran und war für die Zwangsarbeiter eine unmenschliche Qual. Unterwegs gab es keine Verpflegung; man war schließlich gezwungen, die Leichen der Verstorbenen in einem gesonderten Waggon zu sammeln. Am 7. April geriet der Zug während eines längeren Aufenthaltes im Lüneburger Güterbahnhof in einen US-Bombenangriff.
Der Luftangriff verursachte große Schäden. Bombeneinschläge, starke Druckwellen, Feuer und Explosionen machten aus dem Bahnhof ein wahres Inferno und führten zum Tod zahlreicher Häftlinge. Sie waren in verschlossenen Waggons von der Wachmannschaft ihrem Schicksal überlassen worden. Die Überlebenden des Angriffs wurden zum Teil schwer verletzt und lagen hilflos auf den zerstörten Gleisen. Da es sich bei dem Zug um einen Krankentransport handelte, waren die meisten der Überlebenden nicht imstande, das Bahnhofsgelände zu verlassen. Trotzdem gelang es einigen im entstandenen Chaos zu fliehen oder sich mit Nahrung zu versorgen. Manche Häftlinge verteilten sich in der Stadt.

Viele Gleise waren zerstört und die Alliierten drangen stetig weiter ins Reichsgebiet vor – die Fahrt ging darum nur schleppend voran und war für die Zwangsarbeiter eine unmenschliche Qual. Unterwegs gab es keine Verpflegung; man war schließlich gezwungen, die Leichen der Verstorbenen in einem gesonderten Waggon zu sammeln. Am 7. April geriet der Zug während eines längeren Aufenthaltes im Lüneburger Güterbahnhof in einen US-Bombenangriff.
Der Luftangriff verursachte große Schäden. Bombeneinschläge, starke Druckwellen, Feuer und Explosionen machten aus dem Bahnhof ein wahres Inferno und führten zum Tod zahlreicher Häftlinge. Sie waren in verschlossenen Waggons von der Wachmannschaft ihrem Schicksal überlassen worden. Die Überlebenden des Angriffs wurden zum Teil schwer verletzt und lagen hilflos auf den zerstörten Gleisen. Da es sich bei dem Zug um einen Krankentransport handelte, waren die meisten der Überlebenden nicht imstande, das Bahnhofsgelände zu verlassen. Trotzdem gelang es einigen im entstandenen Chaos zu fliehen oder sich mit Nahrung zu versorgen. Manche Häftlinge verteilten sich in der Stadt.

Über die Presse wurde in Lüneburg die Zivilbevölkerung aufgerufen, sich an der Suche nach den entflohenen Häftlingen zu beteiligen.

Leistet jemand Hilfe?

Niemand wird das, was danach passierte, mit letzter Sicherheit rekonstruieren können, aber alle Indizien sprechen dafür, dass die meisten Entwichenen in den nächsten Tagen von der Wachmannschaft, der örtlichen Polizei, aber auch unter Mitwirkung der Zivilbevölkerung gejagt und eingefangen wurden. Später sprach man von einer „Hetzjagd“ auf die entkräfteten Männer. Die Zivilbevölkerung war also nicht nur Zeugin der Verbrechen, sondern sie nahm aktiv daran teil. Selten wurden die Gefangenen freundlich aufgenommen und mit Nahrung oder frischer Kleidung versorgt.

Auch auf dem Bahnhof leistete fast niemand den verletzten KZ-Häftlingen Hilfe. Weder die Polizei noch die Verantwortlichen des Bahnhofs fühlten sich für den Transport zuständig. Männer und Frauen aus der Zivilbevölkerung, die zur Hilfe eilten, wurden nach Aussage von Mitgliedern der Wachmannschaft unter Androhung von Gewalt davon abgehalten, den KZ-Häftlingen zu helfen. Es wurde berichtet, dass die Soldaten der Wache die meiste Zeit betrunken waren.

Leistet jemand Hilfe?

Niemand wird das, was danach passierte, mit letzter Sicherheit rekonstruieren können, aber alle Indizien sprechen dafür, dass die meisten Entwichenen in den nächsten Tagen von der Wachmannschaft, der örtlichen Polizei, aber auch unter Mitwirkung der Zivilbevölkerung gejagt und eingefangen wurden. Später sprach man von einer „Hetzjagd“ auf die entkräfteten Männer. Die Zivilbevölkerung war also nicht nur Zeugin der Verbrechen, sondern sie nahm aktiv daran teil. Selten wurden die Gefangenen freundlich aufgenommen und mit Nahrung oder frischer Kleidung versorgt.

Auch auf dem Bahnhof leistete fast niemand den verletzten KZ-Häftlingen Hilfe. Weder die Polizei noch die Verantwortlichen des Bahnhofs fühlten sich für den Transport zuständig. Männer und Frauen aus der Zivilbevölkerung, die zur Hilfe eilten, wurden nach Aussage von Mitgliedern der Wachmannschaft unter Androhung von Gewalt davon abgehalten, den KZ-Häftlingen zu helfen. Es wurde berichtet, dass die Soldaten der Wache die meiste Zeit betrunken waren.

Zwei helfen trotzdem.

Die einzigen Personen, die den Willen hatten, effektiv Hilfe zu leisten, gehörten einer Hilfsmannschaft des Luftschutzes an, die nach dem Angriff auf dem Bahnhof im Einsatz war. Trotz der Bedrohungen durch die Soldaten wies Ernst Cramm, der Leiter dieser Hilfsmannschaft, seinen Sanitäter Otto Hebenstreit an, die Verletzten zu versorgen und ihnen Brot und Wasser zu geben. Der Sanitäter verband Wunden, gab Morphiumspritzen und verabreichte alles, was seine Erste-Hilfe-Tasche hergab, bis sie leer war. Er kümmerte sich auch darum, dass einige Häftlinge Brot und Wasser erhielten.
Beide Männer bemühten sich darum, weitere Hilfe für die verletzten KZ-Häftlinge zu organisieren, stießen aber überall auf Ablehnung oder konnten niemanden erreichen. An vielen Stellen fühlten sich die Verantwortlichen nicht zuständig.

Zwei helfen trotzdem.

Die einzigen Personen, die den Willen hatten, effektiv Hilfe zu leisten, gehörten einer Hilfsmannschaft des Luftschutzes an, die nach dem Angriff auf dem Bahnhof im Einsatz war. Trotz der Bedrohungen durch die Soldaten wies Ernst Cramm, der Leiter dieser Hilfsmannschaft, seinen Sanitäter Otto Hebenstreit an, die Verletzten zu versorgen und ihnen Brot und Wasser zu geben. Der Sanitäter verband Wunden, gab Morphiumspritzen und verabreichte alles, was seine Erste-Hilfe-Tasche hergab, bis sie leer war. Er kümmerte sich auch darum, dass einige Häftlinge Brot und Wasser erhielten.
Beide Männer bemühten sich darum, weitere Hilfe für die verletzten KZ-Häftlinge zu organisieren, stießen aber überall auf Ablehnung oder konnten niemanden erreichen. An vielen Stellen fühlten sich die Verantwortlichen nicht zuständig.

»I did not take any interest in the Army transport because they were not my task.
Ich hatte nicht das geringste Interesse an dem Armeetransport, weil das nicht meine Aufgabe war. «

Aussage des Zeugen H. Rabe (Reichsbahnbeamter) vor dem britischen Gericht wie in Immo de Vries, S. 148 und S. 405 zitiert

»Da Zivilisten nicht zu meiner Zuständigkeit gehörten und viele Polizeibeamte schon bei der Rettungsarbeit waren, tat ich nichts. Ich war sehr mit meinen eigenen Aufgaben beschäftigt. […]«

Aussage von Nicolaus Hermersdorf (Stationsoffizier am Lüneburger Bahnhof) WO309/149-475 f. (Aus einer E-Mail von Frau von Westernhagen)

Nur 20 bis 25 Häftlinge kamen kurze Zeit später zur Behandlung ins Gerichtsgefängnis, weil die Staatsanwalt in der falschen Annahme informiert wurde, dass es sich bei den Häftlingen um Straftäter handele. Die Verletzten blieben drei Tage dort und wurden am 11. April erneut den Wachen übergeben.

Cramm und Hebenstreit verließen am selben Abend den Bahnhof, um weitere Hilfe zu holen beziehungsweise weil sie zu einem anderen Posten abberufen wurden. Sie kehrten nicht mehr an den Ort des Geschehens zurück

Nur 20 bis 25 Häftlinge kamen kurze Zeit später zur Behandlung ins Gerichtsgefängnis, weil die Staatsanwalt in der falschen Annahme informiert wurde, dass es sich bei den Häftlingen um Straftäter handele. Die Verletzten blieben drei Tage dort und wurden am 11. April erneut den Wachen übergeben.

Cramm und Hebenstreit verließen am selben Abend den Bahnhof, um weitere Hilfe zu holen beziehungsweise weil sie zu einem anderen Posten abberufen wurden. Sie kehrten nicht mehr an den Ort des Geschehens zurück

Ernst Cramm war selbstständiger Malermeister. Von ihm wird erzählt, dass er nie mit „Heil Hitler“ gegrüßt habe und dass er große Zeltbahnen mit Landschaftsmotiven bemalt habe. Sie sollten über Teile Lüneburgs gespannt werden und die feindlichen Piloten verwirren. Die Planen kamen nie zum Einsatz.
Otto Hebenstreit war von Beruf Heilpraktiker.

Über ihre Taten berichteten Cramm und Hebenstreit später vor dem britischen Gericht, das 1946 die Vorkommnisse untersuchte und sie als Zeugen vernahm. Ernst Cramm gab zu Protokoll:

„Auf dem nächsten Gleis sahen wir etwa zehn Waggons stehen, die mit Menschen in gestreifter Kleidung beladen waren. […] Zwei Drittel [der Häftlinge] waren tot und schwer verletzt und der Rest kroch auf allen Vieren das Gleis entlang. […] Ich gab dem Sanitäter Hebenstreit den Befehl, so schnell wie möglich Verbandsmaterial zu beschaffen und die Menschen zu versorgen. […] [Der Wachmann, der am Zug stand,] fragte, was wir wollten. Ich sagte ihm, wir seien hier, um zu sehen, was passiert ist, daraufhin antwortete er, dass er hier die Befehle zu erteilen hätte und niemand anderes. […] Ich entgegnete darauf nichts, aber in einem der Waggons fing jemand an zu schreien, woraufhin der Wachmann diesen Mann erschießen wollte. […] Als er die Waffe anlegte, gab ich ihm klar zu verstehen, dass dies ein Sonderfall sei und dass es hier nach dem Angriff Verletzte gäbe und dass es keinen Unterschied machte, ob sie Freunde oder Gegner oder Feinde seien. […] Der Sanitäter [Otto Hebenstreit] begann, den Menschen Verbände anzulegen und er beobachtete, dass einige – nicht alle – Wasser und Brot bekamen.“
(Ernst Cramm, Aussage im Lüneburger Massaker Prozess gegen Gustav Alfred Jepsen, Joachim Frederick Freitag und Otto Müller, 14.08.1946. Übersetzung. TNA (PRO),WO 235/22), zitiert aus: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Massaker in Lüneburg, S. 11.)

Ernst Cramm war selbstständiger Malermeister. Von ihm wird erzählt, dass er nie mit „Heil Hitler“ gegrüßt habe und dass er große Zeltbahnen mit Landschaftsmotiven bemalt habe. Sie sollten über Teile Lüneburgs gespannt werden und die feindlichen Piloten verwirren. Die Planen kamen nie zum Einsatz.
Otto Hebenstreit war von Beruf Heilpraktiker.

Über ihre Taten berichteten Cramm und Hebenstreit später vor dem britischen Gericht, das 1946 die Vorkommnisse untersuchte und sie als Zeugen vernahm. Ernst Cramm gab zu Protokoll:

„Auf dem nächsten Gleis sahen wir etwa zehn Waggons stehen, die mit Menschen in gestreifter Kleidung beladen waren. […] Zwei Drittel [der Häftlinge] waren tot und schwer verletzt und der Rest kroch auf allen Vieren das Gleis entlang. […] Ich gab dem Sanitäter Hebenstreit den Befehl, so schnell wie möglich Verbandsmaterial zu beschaffen und die Menschen zu versorgen. […] [Der Wachmann, der am Zug stand,] fragte, was wir wollten. Ich sagte ihm, wir seien hier, um zu sehen, was passiert ist, daraufhin antwortete er, dass er hier die Befehle zu erteilen hätte und niemand anderes. […] Ich entgegnete darauf nichts, aber in einem der Waggons fing jemand an zu schreien, woraufhin der Wachmann diesen Mann erschießen wollte. […] Als er die Waffe anlegte, gab ich ihm klar zu verstehen, dass dies ein Sonderfall sei und dass es hier nach dem Angriff Verletzte gäbe und dass es keinen Unterschied machte, ob sie Freunde oder Gegner oder Feinde seien. […] Der Sanitäter [Otto Hebenstreit] begann, den Menschen Verbände anzulegen und er beobachtete, dass einige – nicht alle – Wasser und Brot bekamen.“
(Ernst Cramm, Aussage im Lüneburger Massaker Prozess gegen Gustav Alfred Jepsen, Joachim Frederick Freitag und Otto Müller, 14.08.1946. Übersetzung. TNA (PRO),WO 235/22), zitiert aus: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Massaker in Lüneburg, S. 11.)

Der KZ-Häftling vor der Tür – weitere Hinweise auf Hilfe

Einige abgemagerte Menschen in gestreiften Häftlingsuniformen liefen nach dem Angriff auf der Suche nach Nahrung und nach einer neuen unauffälligen Bekleidung durch die Stadt. Eine Gruppe fand Unterschlupf und Nahrung im nahe gelegenen Haus des Landarbeiters Arseny Hembluck. Er konnte sie kurzfristig versorgen, aber ihre Häscher waren ihnen auf den Fersen:

„Ich kam nach Hause und sah dort eine Anzahl von Häftlingen in meinem Haus. Eine Bombe war genau neben mein Haus gefallen. Ich kam heran, ich hatte kurz vorher ein Schwein geschlachtet, sie hatten zu essen. […] Dann kamen die Wachen und haben die Männer zusammengetrieben. […] Ich wollte ihnen Wasser geben, aber einer der Wachmänner sagte mir, ich solle wegbleiben. […] Sie wurden zusammengetrieben, keiner durfte sich rühren; wenn einer sich bewegte und aufstand, wurde er sofort erschossen. […] Einer [ein Wachmann] verteilte Brot und ein Häftling bekam keins ab. Er ging zu dem Wachmann und bat ihn darum, woraufhin er ihn anschrie und schlug, bis der Mann zu Boden stürzte. […] Es war kalt und nass und wenn sie sich bewegen wollten, um sich aufzuwärmen, wurden sie von den Wachen geschlagen. Wenn sie sich erleichtern gehen wollten, mussten sie auf allen vieren gehen. […] Ich packte meine Sachen und ging zum Haus meines Schwagers. Ich ging nicht zurück, weil ich Angst hatte.“ Aus: Arseny Hambluck. Aussage im Prozess gegen Gustv Alfred Jepsen, Joachim Frederick Freitag und Otto Müller („Luneburg Massacre Trial“), 14.08.1946, zitiert aus: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Massaker in Lüneburg, S. 19.)

Eine Lüneburgerin, die damals Schülerin war, erinnerte sich ebenfalls an Häftlinge, die sich in der Nähe des Bahnhofs befanden. Sie hatte mit ihrem Großvater Schutz in einem Bunker gesucht:

„Da standen zwei in KZ-Kleidung vor unserem Bunker und zitterten und hatten Angst und sprachen französisch. Mein Großvater hat die beiden in den Bunker hineingeholt zu uns. […] Die beiden Franzosen saßen bei mir, und der eine krallte sich vor lauter Angst in mein Bein. […] Die beiden beteten vor sich hin. Dann kamen die Bomben, und es krachte. Und wir hatten wahnsinnige Angst und haben geschrieen (sic). […] Als wir aus dem Bunker herauskamen, stand da draußen schon Wachmannschaft.“ Zitiert nach Immo de Vries, S. 148

Roger Garoute war einer der beiden Häftlinge, denen die Flucht gelang: Er sprang nach der zweiten Angriffswelle auf den Gleisschotter. Ein SS-Mann schoss auf ihn und verletzte ihn am Bein, aber er schaffte es trotzdem zu entkommen, rollte unter dem Schutz eines erneuten Bombardements den Bahndamm herunter und mischte sich unter die Menschenmenge:

„Von da an begann eine bewegte Reise, eine abenteuerliche Reise, eine wahre Odyssee. Ich verließ die Menge und traf auf ein Kommando, eine Gruppe französischer Kriegsgefangener. Ich erklärte Ihnen meine Situation, und sofort halfen sie mir.“

Er durfte sich waschen, erhielt Nahrung und neue Kleidung.

„So war ich nicht mehr jemand mit der gestreiften Kleidung. […] Meine Odyssee endete nicht beim Kommando, das mich tröstete und einige Tage lang versteckte, denn das Risiko, entdeckt zu werden, brachte diese guten Samariter, denen ich viel verdanke, dazu mir zu raten, aus Vorsicht meine Reise fortzusetzen. Ich habe keine Papiere, aber man löst diese Schwierigkeit. Denn von nun an bin ich ein Kriegsgefangener, der aus dem Lager 20B in Pommern entflohen ist. Und Pommern ist unter russischer Besatzung, also ist es unmöglich, dort nachzufragen. […]“

 

Garoute verließ die Gruppe und ging weiter:

„Es war früh am Morgen; ich war völlig durchfroren, ich hatte Fieber wegen einer Bronchitis und Durchfall, ich war sehr geschwächt und völlig verzweifelt, und so klopfte ich bei Anwohnern an. Als die Frau mich sah, ließ sie mich ohne zu zögern und mich etwas zu fragen eintreten, sie stärkte mich, sie bot mir ein Bett an und verwendete alle denkbare Mühe und Sorge, die mein Zustand erforderte. Stellen Sie sich meine innere Bewegtheit vor, als ich in dieser großherzigen Gastfreundschaft ein menschliches Verhalten wiederfand, eine Menschlichkeit, die anders war als die erniedrigende und mörderische Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in der Welt des KZ.“ (Zitiert nach Immo de Vries, S. 148 und Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V., Kriegsverbrechen in Lüneburg, S. 21f.)

Roger Garoute wurde später von der deutschen Polizei aufgegriffen. Er gab sich – wie ihm geraten wurde – als Kriegsgefangener aus und wurde darum ins Militärspital geschickt, wo er am 18. April von den Engländern befreit wurde.

 

 

Der KZ-Häftling vor der Tür – weitere Hinweise auf Hilfe

Einige abgemagerte Menschen in gestreiften Häftlingsuniformen liefen nach dem Angriff auf der Suche nach Nahrung und nach einer neuen unauffälligen Bekleidung durch die Stadt. Eine Gruppe fand Unterschlupf und Nahrung im nahe gelegenen Haus des Landarbeiters Arseny Hembluck. Er konnte sie kurzfristig versorgen, aber ihre Häscher waren ihnen auf den Fersen:

„Ich kam nach Hause und sah dort eine Anzahl von Häftlingen in meinem Haus. Eine Bombe war genau neben mein Haus gefallen. Ich kam heran, ich hatte kurz vorher ein Schwein geschlachtet, sie hatten zu essen. […] Dann kamen die Wachen und haben die Männer zusammengetrieben. […] Ich wollte ihnen Wasser geben, aber einer der Wachmänner sagte mir, ich solle wegbleiben. […] Sie wurden zusammengetrieben, keiner durfte sich rühren; wenn einer sich bewegte und aufstand, wurde er sofort erschossen. […] Einer [ein Wachmann] verteilte Brot und ein Häftling bekam keins ab. Er ging zu dem Wachmann und bat ihn darum, woraufhin er ihn anschrie und schlug, bis der Mann zu Boden stürzte. […] Es war kalt und nass und wenn sie sich bewegen wollten, um sich aufzuwärmen, wurden sie von den Wachen geschlagen. Wenn sie sich erleichtern gehen wollten, mussten sie auf allen vieren gehen. […] Ich packte meine Sachen und ging zum Haus meines Schwagers. Ich ging nicht zurück, weil ich Angst hatte.“ Aus: Arseny Hambluck. Aussage im Prozess gegen Gustv Alfred Jepsen, Joachim Frederick Freitag und Otto Müller („Luneburg Massacre Trial“), 14.08.1946, zitiert aus: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Massaker in Lüneburg, S. 19.)

Eine Lüneburgerin, die damals Schülerin war, erinnerte sich ebenfalls an Häftlinge, die sich in der Nähe des Bahnhofs befanden. Sie hatte mit ihrem Großvater Schutz in einem Bunker gesucht:

„Da standen zwei in KZ-Kleidung vor unserem Bunker und zitterten und hatten Angst und sprachen französisch. Mein Großvater hat die beiden in den Bunker hineingeholt zu uns. […] Die beiden Franzosen saßen bei mir, und der eine krallte sich vor lauter Angst in mein Bein. […] Die beiden beteten vor sich hin. Dann kamen die Bomben, und es krachte. Und wir hatten wahnsinnige Angst und haben geschrieen (sic). […] Als wir aus dem Bunker herauskamen, stand da draußen schon Wachmannschaft.“ Zitiert nach Immo de Vries, S. 148

Roger Garoute war einer der beiden Häftlinge, denen die Flucht gelang: Er sprang nach der zweiten Angriffswelle auf den Gleisschotter. Ein SS-Mann schoss auf ihn und verletzte ihn am Bein, aber er schaffte es trotzdem zu entkommen, rollte unter dem Schutz eines erneuten Bombardements den Bahndamm herunter und mischte sich unter die Menschenmenge:

„Von da an begann eine bewegte Reise, eine abenteuerliche Reise, eine wahre Odyssee. Ich verließ die Menge und traf auf ein Kommando, eine Gruppe französischer Kriegsgefangener. Ich erklärte Ihnen meine Situation, und sofort halfen sie mir.“

Er durfte sich waschen, erhielt Nahrung und neue Kleidung.

„So war ich nicht mehr jemand mit der gestreiften Kleidung. […] Meine Odyssee endete nicht beim Kommando, das mich tröstete und einige Tage lang versteckte, denn das Risiko, entdeckt zu werden, brachte diese guten Samariter, denen ich viel verdanke, dazu mir zu raten, aus Vorsicht meine Reise fortzusetzen. Ich habe keine Papiere, aber man löst diese Schwierigkeit. Denn von nun an bin ich ein Kriegsgefangener, der aus dem Lager 20B in Pommern entflohen ist. Und Pommern ist unter russischer Besatzung, also ist es unmöglich, dort nachzufragen. […]“

 

Garoute verließ die Gruppe und ging weiter:

„Es war früh am Morgen; ich war völlig durchfroren, ich hatte Fieber wegen einer Bronchitis und Durchfall, ich war sehr geschwächt und völlig verzweifelt, und so klopfte ich bei Anwohnern an. Als die Frau mich sah, ließ sie mich ohne zu zögern und mich etwas zu fragen eintreten, sie stärkte mich, sie bot mir ein Bett an und verwendete alle denkbare Mühe und Sorge, die mein Zustand erforderte. Stellen Sie sich meine innere Bewegtheit vor, als ich in dieser großherzigen Gastfreundschaft ein menschliches Verhalten wiederfand, eine Menschlichkeit, die anders war als die erniedrigende und mörderische Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in der Welt des KZ.“ (Zitiert nach Immo de Vries, S. 148 und Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V., Kriegsverbrechen in Lüneburg, S. 21f.)

Roger Garoute wurde später von der deutschen Polizei aufgegriffen. Er gab sich – wie ihm geraten wurde – als Kriegsgefangener aus und wurde darum ins Militärspital geschickt, wo er am 18. April von den Engländern befreit wurde.

 

 

Plan des Lüneburger Güterbahnhofs und der Umgebung. Dokument im Prozess gegen Gustav Alfred Jepsen, Joachim Frederick Freitag und Otto Müller („Luneburg Massacre Trial“). (TNA (PRO), WO 235/229

Der zweite Überlebende der Flucht war der Belgier Albert de Clercq. Er überlebte den Angriff auf den Transport schwerverletzt. Die Bombe, die seinen Waggon erfasst hatte, hatte ihn durch die Luft geschleudert und sein Bein verletzt.

„Ein Kamerad zeigte mir seinen Arm, der völlig zerfetzt war. Da erst spürte ich den Schmerz in meinem verletzten Bein. Ich sagte ihm, dass dieses vielleicht für uns Überlebende das Glück im Unglück sei, denn nun kämen sicherlich Zivilisten, die uns in ein Krankenhaus bringen würden; aber ich glaubte wohl an den Weihnachtsmann. Stattdessen kamen Soldaten und die SS und sie töteten alle Verletzten. […] ich sagte mir, man muss sich also tot stellen, und so legte ich mich hin und wartete. Sie verteilten Fußtritte. […] Erst in der Nacht kam ich zu mir; ein Kamerad lag über mir, tot. Ich befreite mich und begriff, dass ich auf einem Haufen Leichen lag. […] Ich kroch nur des Nachts und versteckte mich am Tage. […] Ich hatte kein Zeitgefühl mehr, ich weiß auch nicht mehr, wie lange das alles gedauert hat, nur, dass ich Blätter und Gras gegessen habe.“ Aus: Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V. (Hg.), Kriegsverbrechen in Lüneburg, S. 24f.

Zu seinem Glück traf er auf eine Gruppe französischer Zwangsarbeiter, die auf dem Weg zu ihrer Unterkunft waren. Einer von ihnen gab im Prozess später zu Protokoll:

„[…] Ich war mit meinen Freunden […] zusammen, und wir unterhielten uns auf Französisch. Er [sc. Albert de Clercq] rief uns zu: „He, seid ihr Franzosen?“ Wir antworteten: „Ja“. Er sagte uns, dass er von einem Konzentrationslagerzug käme, der von Bomben getroffen worden sei, und dass er geflohen sei. […] Er war hungrig, und wir gaben ihm einige Kartoffeln, die wir in der Brauerei gekocht hatten, und auch etwas Tabak und Zigarettenpapier. Wir brachten ihn zu einer der Baracken auf dem Sportgelände und sagten ihm, wir würden um ca. 20 Uhr abends zurückkommen. […] Etwa gegen 20 Uhr kamen wir zurück, haben ihn gewaschen, angezogen, ihn rasiert und gaben ihm einen blauen Arbeitsanzug, ein paar gelbe Stiefel und etwas Tabak. Wir schlugen ihm vor, zum Krankenhaus zu gehen wie jemand, der vom Osten kommt, verwundet ist durch Bomben und der alle seine Ausweispapiere verloren hat. Wir verließen ihn und versprachen, am nächsten Tag zurückzukommen.“ Aus: Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V. (Hg.), Kriegsverbrechen in Lüneburg, S. 24f.

Albert de Clercq verließ noch in derselben Nacht die Baracke in Richtung des Krankenhauses. Aber er erreichte sein Ziel nicht – hatte er keine Kraft mehr oder traute er sich nicht? Mehrere Tage verbrachte er im Wald, aß Blätter und Gras. Ein Krankenpfleger fand ihn später ohnmächtig in einem Wäldchen. Mit der Ankunft der Engländer wurde er befreit und in das Lüneburger Krankenhaus gebracht. Er überlebte, jedoch musste sein entzündetes Bein amputiert werden.

 

Das Massaker

Die im Bahnhof gebliebenen und die in der Stadt aufgegriffenen Häftlinge wurden vermutlich schon am Abend desselben Tages auf ein Feld in der Nähe des Güterbahnhofs gebracht und dort für die nächsten Tage unter unmenschlichen Bedingungen und ständigen Misshandlungen festgehalten. Sie froren und hungerten, viele von ihnen überlebten die Zeit auf dem freien Feld nicht. Ein Teil der Überlebenden wurde mit Lkws in das KZ Bergen-Belsen abtransportiert. Die verbliebenen 60 bis 80 zum Teil verletzten Häftlinge wurden am Abend des 11. April 1945 von den Wehrmachtssoldaten, die sie bewachten, und dem SS-Mann, Gustav Alfred Jepsen, erschossen. Zu ihnen gehörten auch die 25 verletzten Häftlinge, die vorher medizinisch im Gerichtsgefängnis versorgt worden waren.
Die Leichen des Massakers wurden im beiliegenden Waldstück „Tiergarten“, wo auch alle Toten der vorherigen Tage lagen, eilig vergraben. Man wollte die Zeugnisse des Verbrechens verschwinden lassen. Der SS-Mann Jepsen und die Soldaten fuhren nach vollbrachter Tat weiter in das KZ Neuengamme. Am 18. April nahmen die Briten die Stadt Lüneburg ein.

 

Nach 1945

Einige der Verantwortlichen für den Massenmord in Lüneburg wurden im August 1946 vor einem britischen Militärgericht in Lüneburg angeklagt. Es handelte sich um die Leiter der lokalen Schutzpolizei, Major Otto Müller, und den Leiter der Gestapo, Joachim Frederik Freitag, sowie um den SS-Sturmmann Gustav Alfred Jepsen. Die Akten des „Luneburg Massacre Trial“ geben einen erschütternden Einblick in die Stimmung und die allgemeine Verrohung der letzten Kriegstage. Die wenigen Überlebenden schilderten ihre furchtbaren Erlebnisse und konnten leider nur selten von Hilfe und Solidarität berichten.

Von allen Beteiligten wurde schließlich nur der SS-Kommandant Jepsen verurteilt. Er gab vor Gericht zu, sechs Häftlinge eigenhändig durch Herzschüsse getötet zu haben. Es wurde als mildernder Umstand gewertet, dass er angab, auf Befehl gehandelt zu haben. Welche höhere Stelle oder Person einen Befehl zur Tötung der Häftlinge ausgesprochen hatte, konnte jedoch nicht ermittelt werden. Jepsen erhielt trotzdem lediglich eine lebenslange Haftstrafe. Für abscheuliche Verbrechen, die er im Außenlager Alter Banter Weg verübt hatte, wurde er allerdings 1947 in Wilhemshaven von einem weiteren britischen Militärgericht zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde noch im selben Jahr in der Hinrichtungsstätte in Hameln vollzogen. Obermaat Engelmann und die übrigen Soldaten der Wachmannschaften wurden nie zur Rechenschaft gezogen.

Von Erst Cramm und Otto Hebenstreit ist über die Zeit nach 1945 wenig bekannt. Als Malermeister und Inhaber eines Handwerksbetriebs wurde Ernst Cramm nach dem Krieg in den Vorstand der neu gegründeten Handwerkskammer Lüneburg-Stade gewählt. Dies war möglich, weil er als nachweislich politisch unbelastet galt. Erwähnenswert ist, dass der Vorstand unter anderem einstimmig beschloss, Handwerkern, die Insassen von Konzentrationslagern waren, jede mögliche materielle Unterstützung und Erleichterung zu gewähren, um ihnen eine Betriebsgründung zu ermöglichen.

Die Leichname der Ermordeten wurden im Herbst 1945 exhumiert, umgebettet und unweit des ursprünglichen Massengrabes in dem Waldstück „Tiergarten“ feierlich beigesetzt. Um die Identifikation der Toten kümmerte sich jedoch auch zu diesem Zeitpunkt niemand. Die ermordeten Häftlinge blieben eine namenlose Masse. Erst 1951 öffnete das Rote Kreuz das Massengrab ein zweites Mal, um den Toten ihre Namen zurückzugeben. Das war leider nur in wenigen Fällen auf der Grundlage von tätowierten Häftlingsnummern noch möglich. Seit 1954 erinnert ein Gedenkstein an die Opfer der Ereignisse vom April 1945. Die Gedenkstätte wurde seitdem mehrmals umgestaltet. Die Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V. hat darüber hinaus 2015 einen alten Güterwaggon im Wandrahmpark, in der Nähe des Lüneburger Bahnhofs aufgestellt. Gedenkstätte und Güterwaggon sollen als dauerhafte Mahnung und Erinnerung an dieses Ereignis dienen.

Der zweite Überlebende der Flucht war der Belgier Albert de Clercq. Er überlebte den Angriff auf den Transport schwerverletzt. Die Bombe, die seinen Waggon erfasst hatte, hatte ihn durch die Luft geschleudert und sein Bein verletzt.

„Ein Kamerad zeigte mir seinen Arm, der völlig zerfetzt war. Da erst spürte ich den Schmerz in meinem verletzten Bein. Ich sagte ihm, dass dieses vielleicht für uns Überlebende das Glück im Unglück sei, denn nun kämen sicherlich Zivilisten, die uns in ein Krankenhaus bringen würden; aber ich glaubte wohl an den Weihnachtsmann. Stattdessen kamen Soldaten und die SS und sie töteten alle Verletzten. […] ich sagte mir, man muss sich also tot stellen, und so legte ich mich hin und wartete. Sie verteilten Fußtritte. […] Erst in der Nacht kam ich zu mir; ein Kamerad lag über mir, tot. Ich befreite mich und begriff, dass ich auf einem Haufen Leichen lag. […] Ich kroch nur des Nachts und versteckte mich am Tage. […] Ich hatte kein Zeitgefühl mehr, ich weiß auch nicht mehr, wie lange das alles gedauert hat, nur, dass ich Blätter und Gras gegessen habe.“ Aus: Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V. (Hg.), Kriegsverbrechen in Lüneburg, S. 24f.

Zu seinem Glück traf er auf eine Gruppe französischer Zwangsarbeiter, die auf dem Weg zu ihrer Unterkunft waren. Einer von ihnen gab im Prozess später zu Protokoll:

„[…] Ich war mit meinen Freunden […] zusammen, und wir unterhielten uns auf Französisch. Er [sc. Albert de Clercq] rief uns zu: „He, seid ihr Franzosen?“ Wir antworteten: „Ja“. Er sagte uns, dass er von einem Konzentrationslagerzug käme, der von Bomben getroffen worden sei, und dass er geflohen sei. […] Er war hungrig, und wir gaben ihm einige Kartoffeln, die wir in der Brauerei gekocht hatten, und auch etwas Tabak und Zigarettenpapier. Wir brachten ihn zu einer der Baracken auf dem Sportgelände und sagten ihm, wir würden um ca. 20 Uhr abends zurückkommen. […] Etwa gegen 20 Uhr kamen wir zurück, haben ihn gewaschen, angezogen, ihn rasiert und gaben ihm einen blauen Arbeitsanzug, ein paar gelbe Stiefel und etwas Tabak. Wir schlugen ihm vor, zum Krankenhaus zu gehen wie jemand, der vom Osten kommt, verwundet ist durch Bomben und der alle seine Ausweispapiere verloren hat. Wir verließen ihn und versprachen, am nächsten Tag zurückzukommen.“ Aus: Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V. (Hg.), Kriegsverbrechen in Lüneburg, S. 24f.

Albert de Clercq verließ noch in derselben Nacht die Baracke in Richtung des Krankenhauses. Aber er erreichte sein Ziel nicht – hatte er keine Kraft mehr oder traute er sich nicht? Mehrere Tage verbrachte er im Wald, aß Blätter und Gras. Ein Krankenpfleger fand ihn später ohnmächtig in einem Wäldchen. Mit der Ankunft der Engländer wurde er befreit und in das Lüneburger Krankenhaus gebracht. Er überlebte, jedoch musste sein entzündetes Bein amputiert werden.

 

Das Massaker

Die im Bahnhof gebliebenen und die in der Stadt aufgegriffenen Häftlinge wurden vermutlich schon am Abend desselben Tages auf ein Feld in der Nähe des Güterbahnhofs gebracht und dort für die nächsten Tage unter unmenschlichen Bedingungen und ständigen Misshandlungen festgehalten. Sie froren und hungerten, viele von ihnen überlebten die Zeit auf dem freien Feld nicht. Ein Teil der Überlebenden wurde mit Lkws in das KZ Bergen-Belsen abtransportiert. Die verbliebenen 60 bis 80 zum Teil verletzten Häftlinge wurden am Abend des 11. April 1945 von den Wehrmachtssoldaten, die sie bewachten, und dem SS-Mann, Gustav Alfred Jepsen, erschossen. Zu ihnen gehörten auch die 25 verletzten Häftlinge, die vorher medizinisch im Gerichtsgefängnis versorgt worden waren.
Die Leichen des Massakers wurden im beiliegenden Waldstück „Tiergarten“, wo auch alle Toten der vorherigen Tage lagen, eilig vergraben. Man wollte die Zeugnisse des Verbrechens verschwinden lassen. Der SS-Mann Jepsen und die Soldaten fuhren nach vollbrachter Tat weiter in das KZ Neuengamme. Am 18. April nahmen die Briten die Stadt Lüneburg ein.

 

Nach 1945

Einige der Verantwortlichen für den Massenmord in Lüneburg wurden im August 1946 vor einem britischen Militärgericht in Lüneburg angeklagt. Es handelte sich um die Leiter der lokalen Schutzpolizei, Major Otto Müller, und den Leiter der Gestapo, Joachim Frederik Freitag, sowie um den SS-Sturmmann Gustav Alfred Jepsen. Die Akten des „Luneburg Massacre Trial“ geben einen erschütternden Einblick in die Stimmung und die allgemeine Verrohung der letzten Kriegstage. Die wenigen Überlebenden schilderten ihre furchtbaren Erlebnisse und konnten leider nur selten von Hilfe und Solidarität berichten.

Von allen Beteiligten wurde schließlich nur der SS-Kommandant Jepsen verurteilt. Er gab vor Gericht zu, sechs Häftlinge eigenhändig durch Herzschüsse getötet zu haben. Es wurde als mildernder Umstand gewertet, dass er angab, auf Befehl gehandelt zu haben. Welche höhere Stelle oder Person einen Befehl zur Tötung der Häftlinge ausgesprochen hatte, konnte jedoch nicht ermittelt werden. Jepsen erhielt trotzdem lediglich eine lebenslange Haftstrafe. Für abscheuliche Verbrechen, die er im Außenlager Alter Banter Weg verübt hatte, wurde er allerdings 1947 in Wilhemshaven von einem weiteren britischen Militärgericht zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde noch im selben Jahr in der Hinrichtungsstätte in Hameln vollzogen. Obermaat Engelmann und die übrigen Soldaten der Wachmannschaften wurden nie zur Rechenschaft gezogen.

Von Erst Cramm und Otto Hebenstreit ist über die Zeit nach 1945 wenig bekannt. Als Malermeister und Inhaber eines Handwerksbetriebs wurde Ernst Cramm nach dem Krieg in den Vorstand der neu gegründeten Handwerkskammer Lüneburg-Stade gewählt. Dies war möglich, weil er als nachweislich politisch unbelastet galt. Erwähnenswert ist, dass der Vorstand unter anderem einstimmig beschloss, Handwerkern, die Insassen von Konzentrationslagern waren, jede mögliche materielle Unterstützung und Erleichterung zu gewähren, um ihnen eine Betriebsgründung zu ermöglichen.

Die Leichname der Ermordeten wurden im Herbst 1945 exhumiert, umgebettet und unweit des ursprünglichen Massengrabes in dem Waldstück „Tiergarten“ feierlich beigesetzt. Um die Identifikation der Toten kümmerte sich jedoch auch zu diesem Zeitpunkt niemand. Die ermordeten Häftlinge blieben eine namenlose Masse. Erst 1951 öffnete das Rote Kreuz das Massengrab ein zweites Mal, um den Toten ihre Namen zurückzugeben. Das war leider nur in wenigen Fällen auf der Grundlage von tätowierten Häftlingsnummern noch möglich. Seit 1954 erinnert ein Gedenkstein an die Opfer der Ereignisse vom April 1945. Die Gedenkstätte wurde seitdem mehrmals umgestaltet. Die Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V. hat darüber hinaus 2015 einen alten Güterwaggon im Wandrahmpark, in der Nähe des Lüneburger Bahnhofs aufgestellt. Gedenkstätte und Güterwaggon sollen als dauerhafte Mahnung und Erinnerung an dieses Ereignis dienen.

Das erneuerte Denkmal für die Toten des Lüneburger Massakers

Quellen

Albert de Clerq: Brief an Hans-Erwin Zabel, August 1990 (Ang. Ng 6.4.84 A)

Hans-Erwin Zabel: Das Massengrab im Tiergarten Lüneburg. In: Der Heimewanderer. Heimatbeilage der Allgemeinen Zeitung, Uelzen. Jg. 70 (1994), Nr. 47–49, S. 189–200.

Akten des Luneburg Massacre Trial vom 14.08.1946 (TNA (PRO), WO 235/229)

Schmiechen-Ackermann, Detlef, Die nationalsozialistische Herrschaft im „völkischen Kernland“ des „Dritten Reiches“. Politik und Gesellschaft in den NS-Gauen Osthannover, Südhannover-Braunschweig und Weser-Ems 1933–1945, In: Geschichte Niedersachsens: Von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung (Bd. 5), Hannover 2010 – hier: Kap. Die Verbrechen der Endphase, S.438f.

Immo de Vries: 11. April 1945: Der Massenmord in Lüneburg an Häftlingen des KZ-Außenlagers Wilhelmshaven durch SS und Wehrmachtssoldaten. In: Detlef Garbe/Carmen Lange (Hg.): Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945. Bremen 2005, S. 145–153.

Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V. (Hg.), Kriegsverbrechen in Lüneburg. Das Massengrab am Tiergarten, Lüneburg 2000.

KZ-Gedenktstätte Neuengamme (Hg.): Das Massaker in Lüneburg am 11. April 1945, ohne Datum, online abrufbar unter www.neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/thm/ha7_2_1_5_5_thm_2169.pdf (abgerufen am 03.09.2021)

https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/geschichte/kz-aussenlager/aussenlagerliste/lueneburg-massaker-am-11-april-1945/ (abgerufen am 06.08.2021)

http://lg.geschichtswerkstatt-lueneburg.de/292-2/ (abgerufen am 06.08.2021)

Winter, Martin Clemens: Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum. Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche. Berlin 2018 [Metropol]

Felleckner, Thomas, Der Wiederaufbau der Handwerkskammer Lüneburg-Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg, hrsg. von der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade, ohne Datum, online in: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwignr-iz-LyAhXFSfEDHRomAWQQFnoECAMQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.hwk-bls.de%2Fdownloads%2Fder-wiederaufbau-der-kammer-lueneburg-stade-nach-1945-historische-berufe-22%2C92.pdf&usg=AOvVaw0z9DEyNLmbLUD_BGzV98aH (abgerufen am 06.08.2021).

Bearbeitungsvorschläge

Beurteilen Sie nach Sichtung der Quellen die Stimmung in der Stadt Lüneburg im April 1945. Ordnen Sie darin das Verhalten der verschiedenen Beteiligten gegenüber den Häftlingen ein.

Der Brite Harold Le Druillenec gehörte zu den wenigen Überlebenden des Transports. Er hat für den BBC ein Hörspiel über seine Verfolgungsgeschichte geschrieben, das 1946 ausgestrahlt wurde. Er beschreibt darin, wie die Häftlinge in den engen Waggons, hungernd, durstend und nach Luft ringend, immer wieder in heftigen Streit geraten. Le Druillenec lässt darum einen sterbenden französischen Professor folgenden Appell an seine Mithäftlinge richten: „Wenn ihr einer gegen den anderen kämpft, verbraucht ihr kostbare Atemluft. Ich bitte euch, ihr Herren, bleibt so ruhig wie möglich. Versucht euch zu beherrschen. Es ist für eure eigene Gesundheit. Versucht, euch von dem Besten in euch dominieren zu lassen. Unterdrückt die niederen Instinkte, die euch verführen wollen. Erinnert euch, dass ihr alle zivilisierte Menschen seid. Europäer, trotz alledem, was diese Bestien getan haben, um euch zu erniedrigen. Dies sind die letzten Worte, die ich zu euch sagen kann. Sie drücken die Wahrheit aus. Tut, was ich euch gesagt habe, und ihr werdet vielleicht leben können.“ Entwickeln Sie auf der Grundlage dieses Zitats und der übrigen Quellen eine Einschätzung über das „richtige“ Verhalten eines Häftlings im Verlauf der Ereignisse.

Vergleichen Sie die Ereignisse in Lüneburg mit den Ereignissen in Isernhagen (Link: Heinrich Heller).

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